Dies Domini – Fünfter Fastensonntag, Lesejahr B
Heilmittel wirken nicht, wenn man sie nur besitzt. Man muss es sich schon einverleiben, damit es seine Kraft entfalten kann. Das Streben nach Geistlichkeit erliegt dem alten gnostischen Irrtum, wenn es das Körperliche geringachtet oder ignoriert. In der Erdenexistenz ist es ja gerade das Fleisch des Leibes, das dem Geistlichen Form und Gestalt gibt. Paulus weist zwar darauf hin, dass das Sichtbare vergänglich und das Unsichtbare ewig ist (vgl. 2 Korinther 4,14). Das aber widerspricht gerade nicht der Notwendigkeit, dass das Geistliche immer Form und Gestalt braucht. Das Fleischlich-Leibliche ist die Existenz des Geistlichen in Raum und Zeit, während das Geistliche in der Ewigkeit einer in irdischen Maßstäben nicht zu fassende „verklärte“ Leiblichkeit bedarf. Tatsächlich fasst Paulus deshalb den Tod als eine Art Umkleidung des Geistliche auf, wenn er im 2. Korintherbrief ausführt:
Wir wissen: Wenn unser irdisches Zelt abgebrochen wird, dann haben wir eine Wohnung von Gott, ein nicht von Menschenhand errichtetes ewiges Haus im Himmel. 2 Korinther 5,1
Wie sehr gerade Paulus aber selbst das Fleischlich-Leibliche als gestaltgebender Ort des Geistlichen schätzt, wird im 1. Korintherbrief deutlich:
Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wer den Tempel Gottes zerstört, den wird Gott zerstören. Denn Gottes Tempel ist heilig und der seid ihr. 1 Korinther 3,16f
Eine unfleischliche Körperlichkeit ist für die irdische Existenz nicht denkbar. Es ist also gerade der materielle Leib der raum-zeitlichen Seinsweise, derer sich das Geistliche bedient, um wirksam sein zu können. Mehr noch: Das Fleischlich-Leiblichen hat eine ganz eigene Würde, die noch gesteigert wird, wenn im Prolog des Johannes-Evangeliums davon die Rede ist, dass der göttliche Logos sich selbst einfleischt:
Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit. Johannes 1,14
Sicher kennt gerade Paulus auch die Gefahr des allzu Fleischlichen, dass sich eben nicht mehr als Ort der Wirksamkeit des Geistlichen begreift. Jede einseitige Polarisierung birgt ihre Gefahren. Es ist gerade die Dialektik von Geist und Fleisch bzw. Körperlichkeit, die bereits in der jüdischen Tradition, vor allem aber in der christlichen Theologie von Anfang an entscheidend war. Der göttliche Logos, der Fleisch, eben nicht bloß Leib wird, wird zur Mahnung, dass Leib und Seele nicht nur zusammengehören sondern alles Geistliche erst durch das Leibliche – und das bedeutet in der raum-zeitlichen Existenz eben auch das Fleischliche – wirksam werden kann.
Konsequent zu Ende gedacht heißt das nun aber auch, dass der bloße Besitz des Wortes Gottes in Gestalt einer Bibel ebenso wenig bedeutet wie das eloquente Zitieren einzelner Bibelstellen. Nicht ohne Grund schreibt deshalb Paulus an die Korinther:
Unverkennbar seid ihr ein Brief Christi, ausgefertigt durch unseren Dienst, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf Tafeln aus Stein, sondern – wie auf Tafeln – in Herzen von Fleisch. 2 Korinther 3,3
Das Wort Gottes besteht eben nicht aus in Stein gemeißelten Buchstaben oder aus schwarzen Strichen auf weißem Grund. Das sind bloß Stützen der Erinnerung, die erst dann aktiviert werden, wenn man ihnen Gestalt gibt. Das geschieht, wenn der tote Buchstabe immer wieder neue Fleisch wird. Dass das keine Erfindung des christlichen Glaubens ist, sondern grundsätzlich schon in der jüdischen Tradition begründet ist, aus der der christliche Glaube erwächst, ist daran zu erkennen, dass Paulus sich hier auf ein Wort des Propheten Jesaja beruft, das in der ersten Lesung vom fünften Fastensonntag im Lesejahr B verkündet wird:
Seht, es werden Tage kommen – Spruch des Herrn -, in denen ich mit dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund schließen werde, nicht wie der Bund war, den ich mit ihren Vätern geschlossen habe, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägypten herauszuführen. Diesen meinen Bund haben sie gebrochen, obwohl ich ihr Gebieter war – Spruch des Herrn. Denn das wird der Bund sein, den ich nach diesen Tagen mit dem Haus Israel schließe – Spruch des Herrn: Ich lege mein Gesetz in sie hinein und schreibe es auf ihr Herz. Ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein. Jeremia 31,31-33
Das Wort Gottes bleibt auf Distanz, wenn man es nicht in sein Herz lässt. Man mag sich darauf berufen, man kann es eloquent zitieren, man kann es im Schrank stehen haben und auf ihm pochen – all das bleibt letzten Endes unwirksam, wenn es nicht ins eigene Herz aufgenommen wird. Das ist das Entscheidende der jüdisch-christlichen Tradition: Das Tun des Wortes Gottes. Erst im Tun ereignet sich dieser göttlich-menschliche Bund. Erst in der Einfleischung des Wortes wird die Distanz zwischen Gott und Mensch aufgehoben – jene Distanz, die eine Absonderung bedeutet, die im Begriff der Sünde mitschwingt. So verstanden ist die Sünde zuerst ein Zustand und keine Handlung, eben der Zustand des Von-Gott-Getrennt-Seins. Genau dieser Zustand der Trennung wird aber überwunden, wenn Gott in seinem Geist Wohnsitz im Menschen selbst nimmt. Das aber hat Folgen, die Paulus im Römerbrief in eine rhetorische Frage kleidet:
Wie können wir, die wir für die Sünde tot sind, noch in ihr leben? Römer 6,2
Streng genommen ist das eine Frage, deren Antwort sich bereits bei Jesaja in der schon zitierten Lesung vom fünften Fastensonntag im Lesejahr B findet:
Keiner wird mehr den andern belehren, man wird nicht zueinander sagen: Erkennt den Herrn!, sondern sie alle, Klein und Groß, werden mich erkennen – Spruch des Herrn. Denn ich verzeihe ihnen die Schuld, an ihre Sünde denke ich nicht mehr. Jeremia 31,34
Die Erkenntnis Gottes, des Herrn, ist eben nichts, was sich äußerlich ereignet. Sie ist nicht exklusiv und vereinzelt erkennbar. Die Erkenntnis Gottes, von der Jesaja, aber auch Paulus spricht, ist viel umfassender. Es gibt nichts, wo die Erkenntnis nicht möglich wäre. Das liegt daran, dass diejenigen, die das Wort Gottes eingefleischt leben, in allem Gott am Werk sehen. Mehr noch: Für Paulus wächst darauf ein fundamentaler Auftrag, der sich im Galaterbrief findet:
Brüder und Schwestern, wenn ein Mensch sich zu einer Verfehlung hinreißen lässt, so sollt ihr, die ihr vom Geist erfüllt seid, ihn im Geist der Sanftmut zurechtweisen. Doch gib Acht, dass du nicht selbst in Versuchung gerätst! Einer trage des anderen Last; so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. Denn wer sich einbildet, etwas zu sein, obwohl er nichts ist, betrügt sich selbst. Jeder prüfe sein eigenes Werk. Dann wird er sich nur im Blick auf sich selbst rühmen können, nicht aber im Vergleich mit anderen. Denn jeder wird seine eigene Bürde zu tragen haben. Wer im Wort des Evangeliums unterwiesen wird, lasse den, der ihn unterweist, an allen Gütern teilhaben. Täuscht euch nicht: Gott lässt seiner nicht spotten; denn was der Mensch sät, wird er auch ernten. Denn wer auf sein eigenes Fleisch sät, wird vom Fleisch Verderben ernten; wer aber auf den Geist sät, wird vom Geist ewiges Leben ernten. Lasst uns nicht müde werden, das Gute zu tun; denn wenn wir darin nicht nachlassen, werden wir ernten, sobald die Zeit dafür gekommen ist. Deshalb lasst uns, solange wir Zeit haben, allen Menschen Gutes tun, besonders aber den Glaubensgenossen! Galater 6,1-10
Dieses Gesetz der Liebe Christi ist nicht aufschreibbar. Es ist etwas, das sich ereignen muss. In diesem Sinn sind die Worte des Paulus zu verstehen, der die Thessalonicher auffordert, ohne Unterlass zu beten (vgl. 1 Thess 5,17). Wer das Wort Gottes so eingefleischt lebt, dessen Handeln ist in sich Gebet.
Christsein ist nicht billig zu haben. Es genügt nicht, den Katechismus zu kennen. Echter lebendiger Glaube führt zu eingefleischter Leidenschaft, die kein Schwarz-Weiß-Denken duldet. Das ist Sache der Buchstaben. Das Leben aber ist zu bunt. Wer vor dieser Zumutung erschrickt, hat den ersten Schritt der Erkenntnis hinter sich.
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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